Bei der Wiederöffnung der Schulgebäude in der vergangenen Woche wurden wir von einer Journalistin der Süddeutschen Zeitung begleitet. Aufmerksam hat sie in der Früh die letzten Vorbereitungen verfolgt und genau zugesehen, wie die Schülerinnen und Schüler sich verhalten haben, als sie nach der langen Pause das erste Mal wieder in die Schule durften. Stundenlang hat sie sich mit Lehrkräften, mit Schülerinnen und Schüler, mit Eltern und mit mir unterhalten. Dabei ging es viel ums Lernen zuhause, um unsere digitalen Klassenzimmer, um das Konzept dahinter, die Haltung der Lehrkräfte, die Erfahrungen und das Feedback.
Der Text ist dann am 06.05. ganzseitig auf der Seite 3 der SZ erschienen. Das ist einerseits natürlich irgendwie eine Ehre, andererseits waren wir ein bisschen enttäuscht darüber, dass die Energie und die Erfolge des Fernlernens im Artikel überhaupt nicht vorkommen. Die Reportage zeigt eine Momentaufnahme der Wiederaufnahme der Präsenzbeschulung unter stark reglementierten Bedingungen. Inhaltlich trifft das meiste zu, aber die Atmosphäre, die der Text aufbaut, ist doch für meinen Geschmack arg bedächtig und spiegelt den Einfallsreichtum und die Freude, mit der wir uns in den vergangenen Wochen den Herausforderungen gestellt und neue Wege entwickelt haben, so gar nicht wider. Aber das war halt auch nicht das Thema des Textes. Und es stimmt natürlich auch, dass fast alles, was Schule in normalen Zeiten schön und zum Lebensraum macht, gerade nicht stattfindet und dass Schule im Moment vor allem Lehren und Prüfen und Händewaschen ist. Und vielleicht passen ja positive Erfahrungsberichte auch nicht so recht in die Zeit. Wer mag, kann hier in den Text reinlesen:

Am 05.05. informierten die Politiker dann in einer Pressekonferenz über die beschlossenen Lockerungen. Dass schon eine Woche nach dem Start der 9. Klassen auch die 5. und 6. Klassen wieder tageweise in die Schule kommen würden, hat mich überrascht; ich war eigentlich davon ausgegangen, dass wir mehr Zeit hätten, den Präsenzschulbetrieb mit den 9. und 10. Klassen zu erproben. Kurz nach der Pressekonferenz gab es die ersten Rückfragen von Lehrkräften und Eltern zur Implementierung des vorgestellten Fahrplans; da wir davon aber auch soeben erst erfahren hatten, konnten wir natürlich noch nicht viel dazu sagen.
In der Pressekonferenz kündigte der Minister auch einen Schwung neuer kultusministerieller Schreiben mit den Details zur Umsetzung des angekündigten Fahrplans an; 10 Tage später kann ich sagen: Er hat nicht zuviel versprochen.
Am 06.05. gab’s ein KMS mit den genauen Informationen, welche Schüler*innen wann die Schule besuchen sollen, wie Noten gebildet werden können und was fürs Durchfallen gelten soll. Der Spielraum für individuelle Lösungen ist nicht besonders groß; immerhin gibt es aber den Hinweis, dass die Umsetzung sich nach der Situation vor Ort richtet, was im weiteren Verlauf der Öffnung für unser überfülltes Schulhaus in Gmund durchaus noch wichtig werden könnte.
Mit der Ankündigung der Öffnung der Schulgebäude sind verschiedene Aspekte verknüpft, zum Beispiel:
- die Erwartung, dass in einem gewissen Umfang in den Kernfächern die wesentlichen Inhalte der derzeitigen Jahrgangsstufe noch behandelt werden können,
- die Hoffnung, dass noch ausreichend Zeit ist, um Leistungsnachweise zur Notenverbesserung zu erbringen,
- der Wunsch, dass durch die Rückkehr der Kinder vor allem der niedrigeren Jahrgangsstufen eine regelmäßige Entlastung der Elternhäuser eintritt, die den Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wieder besser ermöglicht.
Diese Hoffnungen und Erwartungen werden sich nach meiner Auffassung mit der nun gefundenen Lösung nur teilweise erfüllen lassen. Ich vermute, dass ausschlaggebend war, möglichst viele Schülerinnen und Schüler bei der Wiederaufnahme der Präsenzbeschulung mit einzubeziehen, auch wenn dafür deutliche Abstriche beim Umfang der Präsenzzeit gemacht werden müssen. Das kann ich grundsätzlich nachvollziehen, weil der Wiederbesuch der Schule einen Wendepunkt bedeutet und starke Symbolkraft hat. Konkret bedeutet das aber zum Beispiel in unserer Familie, dass die Fünftklässlerin bis Pfingsten voraussichtlich nur an drei Tagen die Schule besuchen wird. Das wird ihr gut tun, aber es wird weder bei der Behandlung der Inhalte groß weiterführen, noch wird es für uns Eltern eine Entlastung sein. Im Gegenteil bedeutet die Beschulung der Kinder im Schichtbetrieb, der in manchen Grund- und Mittelschulen praktiziert wird, eher eine Mehrbelastung für die Familien, die nun den halben Tag damit beschäftigt sind, ihre Kinder zu bestimmten Zeiten zur Schule zu bringen und schon kurz darauf wieder abzuholen.
Welche Folgen hat das für den digitalen Fernunterricht und die Belastung der Lehrkräfte?
Obwohl beim nun vorliegenden „Fahrplan“ nur wenig Präsenzzeit für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler herauskommt, ist der personelle Aufwand hoch, da die Abschlussklassen in doppeltem Umfang beschult werden und die Stundenzahl im Präsenzunterricht der Jahrgangsstufen 5, 6 und 9 sich nur für die Schülerinnen und Schüler, nicht jedoch für die Lehrkräfte der Kernfächer halbiert. Zusätzlich ist der Personalstamm geschmälert, weil schwangere Lehrkräfte oder Lehrkräfte, die zur Risikogruppe gehören, weiterhin nicht im Präsenzunterricht eingesetzt werden dürfen. Die Durchführung der Notbetreuung und des Probeunterrichts bindet weitere Ressourcen, ebenso die große Zahl der Aufsichten, die wegen der Hygienevorschriften erforderlich werden.
Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass ein großer Teil der Lehrkräfte an Bayerns Schulen (insbesondere an den Realschulen mit ihren häufig recht jungen Kollegien) selbst kleine Kinder hat, für die nur bedingt ein Anspruch auf Notbetreuung besteht (tatsächlich ist es erstaunlich, wie unterschiedlich die Tatsache in Kitas akzeptiert wird, dass Lehrkräfte im Homeoffice arbeiten).
Selbstverständlich werden wir uns weiterhin bemühen, alle diese Anforderungen unter einen Hut zu bekommen und sowohl die wenige Präsenzzeit optimal zu nutzen wie auch digitale Lernangebote aufrechtzuerhalten. Es wird aber nicht zu vermeiden sein, dass insbesondere die Lehrkräfte, die eine hohe Stundenzahl im Bereich der Kernfächer unterrichten, ihr Engagement im Bereich des digitalen Unterrichts einschränken werden müssen. Und das ist schade, weil wir da in den letzten Wochen wirklich viel Expertise aufgebaut haben.
Notenbildung / Durchfallen
Im oben genannten Schreiben werden auch die Rahmenbedingungen für die Notenbildung und für die Wiederholung von Jahrgangsstufen ausgeführt. Und das wird noch spannend, denn bei Eltern und Schüler*innen gibt es hohe Erwartungen:
Und in der Umsetzung liest sich das dann so:

Es gibt da tatsächlich auch vom Wortsinn her keinen Widerspruch. Eine gewisse Spannung entsteht aber dadurch, dass jeder ja zunächst den Teil einer Botschaft wahrnimmt, den er gerne hätte. Eltern und Schüler*innen hören in der Ankündigung des Ministers also: „Kein Schüler bleibt sitzen“. Das wurde aber so nie gesagt. Sondern die entscheidende Frage wird sein:
Hätte der Schüler ohne die Beeinträchtigungen durch Corona das Klassenziel erreicht? Bliebe er also wegen Corona sitzen oder wäre zu erwarten gewesen, dass er ohne diese Sondersituation das Klassenziel ebenfalls nicht erreicht hätte?
Insbesondere in der Mittelstufe praktiziert ein Teil der Schüler*innen traditionell das, was nun auch in der Politik das Gebot der Stunde ist: Sie fahren auf Sicht. Das bedeutet, sie starten mit einem gewissen Mindesteinsatz und justieren dann im Lauf eines Schuljahres so nach, dass es am Ende gerade so reicht. Und für die ist die Situation jetzt teilweise blöd, weil sie irgendwo zwischen 4 und 5 stehen, aber die Leistungsnachweise, mit denen sie sich in einem normalen Schuljahr auf die 4 gerettet hätten, nicht mehr stattfinden. Und nun wird es also der Lehrerkonferenz zukommen, eine entsprechende Einschätzung und Prognose vorzunehmen; keine leichte Aufgabe. Und dieser Ermessensspielraum birgt natürlich auch die Gefahr, dass Schüler*innen mit identischem Notenbild an einer Schule auf Probe vorrücken können und an einer anderen nicht. Das kann im pädagogischen Verantwortungsrahmen sogar richtig sein (das Gesamtbild eines Schülers umfasst ja viel mehr als nur seine Noten), dürfte aber schwer vermittelbar sein. Von daher glaube ich persönlich, dass Schulen gut beraten sind, sich an der Ankündigung des Ministers zu orientieren und im Zweifel großzügig zu entscheiden.
Was war sonst noch so?
MS Teams gibt es jetzt für alle bayerischen weiterführenden Schulen. Das ist zunächst eine erfreuliche Nachricht, weil Teams ein gut funktionierendes Werkzeug ist, das auf allen möglichen Gerätearten läuft und das den Aspekt der Kommunikation in den Mittelpunkt stellt, den ich mit Blick auf die Beziehungspflege im Moment für wichtiger halte als die Inhalte. Wenn nun den Schulen ein solches Werkzeug unkompliziert an die Hand gegeben wird, dann verdient das Respekt und Anerkennung, weil es mit Sicherheit aus der Open-Source-Gemeinde und von den Datenschützern auch Gegenwind geben wird. Deren Einwände sind grundsätzlich ernstzunehmen; trotzdem halte ich persönlich die Entscheidung für richtig und gut. Aber:
Die Schulen brauchen eine Nutzungsperspektive über Corona hinaus. Der Aufwand, ein solches Werkzeug organisationsweit auszurollen und klug zu nutzen, ist für eine nur vorübergehende Nutzung zu hoch. Außerdem erhöht die Perspektive eines dauerhaften Einsatzes die Motivation aller Beteiligten und lässt sie bei der momentanen Nutzung auch Einsatzszenarien entwickeln, die „nach Corona“ Lernen in der Schule mit dem digitalen Lernraum sinnvoll vernetzen. Und da sollten wir hin – ob mit Teams oder anderen Werkzeugen ist erstmal nachrangig.
Und dann gibt es noch die Erklärung, warum dieser Blogbeitrag zwei Wochen umfasst, ich also letztes Wochenende nichts aufgeschrieben habe:
