Die Weihnachtsferien sind in manchen Bundesländern schon vorbei, in den meisten geht die Schule am nächsten Montag wieder los. Und wie schon so oft in der nun bald zweijährigen Pandemie wird wieder über die Schulen gestritten. Und selten fand ich es so schwer, mir selbst eine Meinung dazu zu bilden, was nun klug wäre, vor allem aus zwei Gründen:
1. Mir fehlt die nachvollziehbare Evidenz für eine Risikoabwägung.
Klar ist, dass alle Szenarien mit Nachteilen verbunden sind:
Einerseits warnt die Wissenschaft vor einer massiven Omikron Welle, die in den USA die Kliniken mit Kindern flutet, während Neurowissenschaftler davor warnen, dass mehr als 10% der COVID-Betroffenen anhaltenden neurologische Störungen entwickeln und Gesundheitsminister Lauterbach fordert, die COVID-Verharmlosung bei Kindern müsse enden.
Auf der anderen Seite berichten Ärzt*innen von einer Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, gravierende Lernlücken werden allerorten beklagt, nicht wenige Familien haben die Phasen des Distanzunterrichts als konfliktreich erlebt und nicht zuletzt gibt es kleine Anzeichen dafür, dass die neue Virenvariante womöglich in der Tendenz mildere Verläufe nach sich ziehen könnte.
Die Debatte wird in großer Schärfe und mit erheblichen Verzerrungen geführt; von allen Seiten. Wer sich für den Präsenzunterricht einsetzt, wird als Durchseuchungsfanatiker geschmäht; wer Distanzunterricht fordert, muss sich vom Präsidenten des Kinderärzteverbandes vorwerfen lassen, er würde Kinder mit Bildungsentzug knechten. Bildungsökonomen tun so, als wäre im Präsenzunterricht Anwesenheitszeit gleich Lernzeit und rechnen die Differenz zur Lernzeit im Distanzunterricht in wegfallende Monatsgehälter um. Das ist alles ziemlich schrill und bei der Meinungsbildung nicht besonders hilfreich und mir zumindest gelingt es im Moment nicht, trotz allen Lesens, trotz aller Gespräche, die Fragen klar zu beantworten: Wie gefährlich ist Omikron für die Kinder? Wie gefährlich ist es, die Schulen fast ohne Maßnahmen im Vollbetrieb laufen zu lassen? Und wie gravierend sind demgegenüber die negativen Auswirkungen von Distanzunterricht; für die Kinder und Jugendlichen, für die Familien, für die Gesellschaft?
Allzu häufig wird dann auf die anekdotische Evidenz zurückgegriffen; also mache ich das jetzt auch mal: Meine eigenen Kinder sind in ihrem maximal privilegierten Umfeld gut im Distanzunterricht klargekommen und könnten sich das auch jetzt wieder gut vorstellen; auf jeden Fall wäre es in ihren Augen nicht schlechter als Unterricht mit Maske und Wolldecken. Andererseits sehe ich wirklich viele Kinder und Jugendliche, die damit überhaupt nicht gut zurecht gekommen sind und die jetzt große Schwierigkeiten haben, in ein „normales“ schulisches Lernen zurückzufinden und die mit großen inhaltlichen Defiziten kämpfen – und damit sind sie, das versichern mir Kolleg*innen aller Schularten, nicht allein.
2. Mir fehlen differenzierende Antworten.
Die diametrale Zuspitzung und Vereinfachung wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Wer von „Schulschließungen“ statt von Distanzunterricht spricht, will damit eine bestimmte Wirkung erzeugen. Wer davon spricht, Kinder mit „Bildungsentzug zu knechten“ stellt sich auf eine Stufe mit Politikern, die in den letzten Tagen stolz mit Böllern aus der Zeitung lachten. Es gibt diesen wunderbaren Comic von Wiley, den ich aus urheberrechtlichen Gründen hier nur verlinke, der das Problem aber gut darstellt.
Und wir müssten so vielfältig differenzieren: Distanzunterricht in der Oberstufe ist etwas völlig anderes als in der Grundschule. Natürlich ist es völlig sinnfrei, wenn Berufsschüler*innen ihrer betrieblichen Ausbildung im Homeoffice nachgehen, dann aber mit 30 anderen an den Schultagen im Klassenzimmer sitzen. Ebenso illusorisch dürfte es aber sein, von Familien in sozial schwierigen Verhältnissen zu erwarten, neben der eigenen (in der Regel nicht im Homeoffice möglichen) Erwerbstätigkeit einem Erstklässler lesen und schreiben beizubringen. Neben Alter, Schulart, familiären Verhältnissen kommt noch die ganz individuelle Situation dazu: Manch Jugendliche*r in der Pubertät ist ganz froh, die anderen nicht sehen zu müssen und lernt am liebsten daheim, im eigenen Tempo. Andere schaffen in so einer Situation gar nichts, sondern zocken 16 Stunden am Tag. Manche schätzen das individuelle Risiko als gut vertretbar ein und andere sehen sich gezwungen, ihre Kinder jeden Tag mit großer Angst in die Schule schicken zu müssen.
Mein Eindruck ist, dass sich in der digitalen Welt plattformabhängige Blasen gebildet haben, die sich in ihrer jeweiligen Wahrnehmung fortwährend verstärken. Die Vorsichtigen auf Twitter, die Querdenker auf facebook. In Begegnungen des Alltags wünschen sich nach meiner Wahrnehmung die meisten Eltern, die Mehrzahl der Kolleg*innen und auch viele Schülerinnen und Schüler Präsenzunterricht; aber nicht um jeden Preis. Wo dabei die Schwelle liegt, ist sehr verschieden. Und es ist schade, dass es keine Ansätze gibt, dieser Heterogenität individuelle Lösungsansätze zu entgegnen: Warum nicht eine Onlineschule in jedem Bundesland, mit MOOCs und individuell begleitenden Tutor*innen? Wäre es vielleicht sogar möglich, eine Onlineklasse in jedem Jahrgang mitzuführen? Oder könnten wir nicht doch die Möglichkeit hybrider Szenarien noch viel intensiver nutzen? Ich bin sicher, würde man Gestaltungsräume öffnen, würden sich Lehrkräfte finden, diese zu erproben.
Onlineschulen würden viele Probleme lösen: Kinder, die wegen Quarantäne nicht in die Schule können. Kinder, aus den sogenannten Schattenfamilien besonders vor Infektion geschützt werden müssen. Kinder, die wegen Mobbing aus ihrer Klasse rauswollen. Kinder, die ihren Beinbruch zu Hause auskurieren dürfen. Kinder, die z.B. mit LongCovid nicht genug Energie für den Schulweg haben, aber am Unterricht teilnehmen könnten. Und alle Kinder, die einfach so gerne eine Corona-Infektion vermeiden wollen.
Lieber Tobi,
danke für deine Gedanken. In vielen Bereichen hast du gekonnt ausgedrückt, was mir ebenfalls im Kopf umgeht.
Die Schulen, unser Schulsystem steht vor Herausforderungen, die wir bisher in dieser Dimension nie bewältigen mussten. Wer hätte vor 3 Jahren geahnt, was auf uns zukommt. Was ich damit sagen will: Diese Herausforderungen verlangen auch ein Umdenken: Die bisher bewährten(?) Muster greifen nicht mehr. Wir brauchen als Schulleitung vor Ort mehr Handlungsspielraum und Flexibilität. Wenn beispielsweise eine Klasse über längere Zeit immer wieder in Quarantäne ist, wäre es angebracht, auf den ein oder anderen Leistungsnachweis verzichten zu können. Oder: Wenn aus irgendeinem Grund die Englischlehrkraft für einige Zeit wegbricht, könnte man anschließend einige Wochen mehr Englisch geben und ein anderes Fach etwas hinten anstellen…. Es gibt viele vergleichbare Beispiele. Ich wollte mit diesen beiden nur andeuten, in welche Richtung meine Gedanken gehen. Flexibilität und individuelles Vorgehen – abgepasst an die Gegebenheiten vor Ort, das meine ich. Es ist ja auch nicht jede Schule digital gleichermaßen aufgestellt usw…
Da reicht es nicht, als einzige Maßnahme ab Montag die vollständig geimpften und genesenen Schülerinnen und Schüler auch wieder zu testen. Wir gesagt: Neue – gänzliche neue Herausforderungen – verlangen auch neue Lösungsansätze.
Einen guten Start wünsche ich dir am Montag
Grüße
Christian
Genau diese Gedanken wälze ich auch permanent im Kopf herum mit schwankenden Ergebnissen. Jede Schule müsste in ihrem Rahmen mehr Entscheudungsmoglichkeiten haben, gerade um differenzieren zu können. Für unsere Abiturienten wäre zeitweise Distanzunterricht perfekt. Und auch bei meinem Grundschüler und einer Inzidenz Richtung 5000 wäre es mir lieber. Für andere muss es aber eben doch viel besser Präsenz sein, v. a. in den Pubertätsstufen.