Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Bloggern hat sich zum Ziel gesetzt, 2024 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen („Blogparade“). Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt.
In der zweiten Runde lautete die Herausforderung, sich mit einem Aspekt des „Manifests von unten“ auseinanderzusetzen und eine Reihe von Bloggern hat sich für die Frage nach der Arbeitszeiterfassung in der Schule entschieden:
- Halbtagsblog
- Die Reine Leere
- Kubiwahn
- Herr Mess
- Halbtagsblog (Gastbeitrag)
- Fengler.Schule
- Herr Rau
- Neues aus dem Baumhaus
Spätestens seit dem EuGH-Urteil von Mai 2019 hat das Thema „Arbeitszeiterfassung“ an Präsenz gewonnen und manche Verbände und Gewerkschaften fordern, dass auch in Schulen die Arbeitszeit der Lehrkräfte erfasst werden soll. Es gibt zum Thema „Lehrerarbeitszeit“ eine ganz gute Studienlage (wobei der Haken dabei ist, dass alle diese Studien – soweit mir bekannt – auf Selbstbeobachtungen basieren) und einiges an Fachliteratur. Wer da tiefer einsteigen möchte, kann sich hier eine Zusammenfassung des Forschungsstands herunterladen.
Disclaimer: Ich bin mit dem Forschungsstand nicht vertraut; alles, was jetzt kommt, ist nur meine persönliche Meinung aus der Perspektive eines Lehrers und Schulleiters einer Sek-I Schule; an Grundschulen, in der Sek II oder auch einfach nur in deinem subjektiven Erleben mag das alles ganz anders sein.
Ich bin Leiter einer Schule in einer landschaftlich unheimlich schönen Gegend mit horrenden Mieten und einem enormen Freizeitdruck an Wochenenden durch Tagestouristen. Wenn neue Lehrkräfte bei uns anfangen, ist mit das erste, was sie zu hören bekommen, in etwa Folgendes: „Präsenz ist kein Wert für sich. Wenn du hier in der Gegend schon die teure Miete bezahlen musst, dann sollst du wenigstens was davon haben. Und wenn du nach der vierten Stunde aus hast, schwing dich aufs Rad oder schnür die Wanderschuhe und genieß die tolle Gegend für ein paar Stunden; an den Schreibtisch setzen kannst du dich danach immer noch.“
Dass Lehrkräfte einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit selbstverantwortlich einteilen können, halte ich für einen der ganz großen Vorzüge unseres Berufs. Und auch wenn es für mich als Schulleiter irgendwie schon reizvoll klingt, wenn alle Lehrkräfte ihre Arbeitszeit in Büros an der Schule ableisten müssten, sollten wir uns tunlichst hüten, auch nur einen Schritt in diese Richtung zu gehen. Während Corona haben viele Unternehmen die Belegschaft ins Homeoffice geschickt und nun fordern nicht wenige CEOs die Rückkehr ins Büro. Die Argumente dafür halte ich regelmäßig für vorgeschoben; meistens dürfte es um ein Kontrollbedürfnis gehen und die Illusion, dass die sinnvolle Nutzung der Arbeitszeit vor Ort leichter überprüfbar ist.
In manchen Fällen ist das Misstrauen vielleicht sogar berechtigt: Manche schaffen es, aus dem Home-Office drei Vollzeit-Jobs gleichzeitig zu bedienen und dort, wo Arbeitgeber zu technischen Maßnahmen greifen, um die Produktivität ihrer Mitarbeitenden zu überwachen, werden sie mit ihren eigenen Mitteln geschlagen: 149 Ergebnisse liefert die Amazon-Produktsuche nach „Mausbeweger für Home Office“.
Ich möchte keine Erfassung meiner Arbeitszeit.
Ich hätte zwar keine Bedenken, dass dabei herauskommen könnte, dass ich zu wenig arbeite. Aber: Ich arbeite auch nicht wesentlich zu viel. Ich habe eine Zeit lang meine Arbeitszeit protokolliert, weil ich aus dem Umfeld öfter zu hören bekomme, dass ich so wahnsinnig viel arbeiten würde. Rausgestellt hat sich: Stimmt gar nicht, zumindest was den Teil der Arbeit betrifft, die ich machen muss. Aber ich beschäftige mich sehr gern und viel mit Bildungsthemen und schweife dabei in Tiefen ab, die bisweilen viel Zeit in Anspruch nehmen. Das würde ich vielleicht als „berufsbezogenes Hobby“ bezeichnen; abrechnungsfähige Arbeitszeit ist das aber wohl eher nicht.
Arbeitsbelastung, Arbeitszeit und Leistung
Nach meiner Wahrnehmung mischen sich in der momentanen Diskussion diese drei Themen häufig auf ungute Weise. Lehrer*in sein ist ein Beruf mit sehr hoher Arbeitsbelastung. Und ich bin überzeugt davon, dass es gut wäre, Belastungsfaktoren zu identifizieren und zu reduzieren. Aber ich glaube, dass die reine Arbeitszeit im Kern nicht zu den größten Belastungsfaktoren zählt: Gruppengröße, zu wenig Pausen, der Aufmerksamkeitsfokus während der Unterrichts, Einzelkämpfertum, das Fehlen multiprofessioneller Teams, Inklusionsforderungen ohne die nötigen Ressourcen, teilweise mühsame Elternkontakte, etc. – das ist alles wahnsinnig anstrengend, hat aber erstmal nichts mit der Gesamtsumme an Arbeitsstunden zu tun.
Lehrkräfte müssen viele Stunden pro Woche arbeiten.
Es ist gar nicht so einfach, als Lehrer*in zu lange zu arbeiten: Ein Schuljahr zählt knapp 60 Ferientage, denen 30 Tage Urlaubsanspruch gegenüber stehen. Nun sind Ferien unterrichtsfreie Zeit, in denen natürlich auch gearbeitet wird. Gehen wir mal optimistisch davon aus, dass fünf Wochen lang (z.B. während der Sommerferien, in denen die meisten Lehrer in Bayern noch gar nicht wissen, welche Klassen sie im kommenden Jahr überhaupt unterrichten werden und deshalb teilweise zum Nichtstun verdammt sind) gar nicht gearbeitet wird und an jedem anderen Ferientag drei Stunden Arbeitszeit für Vor-/Nachbereitung und Korrekturen anfallen würden (in Summe ca. 13 Tage). Dann verbleiben 21 Tage, die als Mehrarbeit während der Unterrichtszeit eingearbeitet werden müssen. Umgelegt auf 39 Unterrichtswochen steigt so die Arbeitszeit auf 43 Wochenstunden, die man arbeiten muss, um sein „Pflichtpensum“ als Beamter abzuleisten. Das ist gar nicht so wenig – und realistisch würde ich die während der Ferien anfallende Arbeitszeit aus meiner Erfahrung eher niedriger ansetzen, sodass man durchaus auch auf 44 oder 45 „Pflichtstunden“ während Unterrichtswochen kommen kann.
Arbeit und Freizeit vermischen sich bei Lehrkräften häufig.
Als Lehrer*in bist du gefühlt irgendwie nie mit deiner Arbeit fertig. Du kannst immer etwas vorbereiten, dazulernen, ändern, protokollieren, besser machen. Das erleben manche Kolleg*innen als belastend und es ist meines Erachtens eine für die persönliche Psychohygiene unabdingbare Kompetenz, Schule Schule sein lassen zu können.
Ich selbst erlebe diese Vermischung aber gar nicht als Belastung, sondern ich mag das im Gegenteil sehr, weil in der Möglichkeit dieser Vermischung auch viele Freiheiten stecken: Ich kann (als Lehrer sowieso, aber schon auch in der Leitung) Teile der Arbeitszeit aus dem Schulhaus auslagern. Ich kann auf den Berg gehen, die wunderbare Natur genießen und zwischendrin auf eingehende Nachrichten oder Anrufe reagieren. Ich kann abends auf der Couch Beurlaubungen genehmigen und mir noch einen Überblick über die Absenzen im Kollegium für den Folgetag verschaffen, was mich ruhiger schlafen lässt, weil ich schon weiß, was mich erwartet. Und ich kann natürlich umgekehrt auch in der Schule zwischendrin mal Privates lesen oder besprechen.
Manche würden an einer Arbeitszeiterfassung vielleicht wertschätzen, dass es sie diszipliniert; ich würde mich eingeschränkt und gegängelt fühlen. Und wie bei allen Dokumentationspflichten läge der Reiz dann nahe, die Dinge am Ende halt irgendwie plausibel darzustellen, auch wenn die Eintragungen dann vielleicht gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätten. Was ist aber ganz sicher nicht machen möchte, wäre, vor jedem privaten Telefonat in der Schule ausstempeln und vor jedem beruflichen Telefonat während der Freizeit die Zeiterfassung anzuwerfen zu müssen, eine fürchterliche Vorstellung.
Was ist überhaupt Arbeit, was Freizeit? Klar, vieles ist eindeutig. Aber die Lektüre eines Fachbuchs? Der Besuch der kollegialen Fallberatungsgruppe? Bildungsblogs lesen? Mit Freunden schwierige berufsbezogene Situationen reflektieren? Am Wochenende einen regionalen Schulentwicklungstag besuchen?
Leistung ist Arbeit pro Zeit, soweit klar. Aber wie ist das jetzt: Wenn eine Lehrkraft für die Korrektur einer Klassenarbeit 6 Stunden braucht und damit innerhalb ihrer wöchentlichen Arbeitszeit bleibt und eine andere für die gleiche Korrektur 10 Stunden Zeit aufwendet und die wöchentliche Arbeitszeit um vier Stunden überschreitet, sind das dann Überstunden, die abgefeiert oder ausbezahlt werden? Oder müsste die Lehrkraft dann eher eine Rüge bekommen, weil sie nicht effizient genug arbeitet? Und müsste man nicht die Qualität der Korrektur in die Bewertung dieser Situation einbeziehen? Und wer soll das überwachen?
Ein zentrales Ergebnis aller Arbeitszeitstudien zu Lehrerarbeitszeiten ist, dass die Schwankungsbreite der aufgewendeten Zeit innerhalb der in Bezug auf den Aufgabenumfang homogenen Gruppe enorm ist. Es gibt also Lehrkräfte (gleiche Schulart, gleiche Fächer), die viel mehr arbeiten als vorgesehen; genauso aber welche, die viel weniger arbeiten. Und es ist ja auch logisch: Ich kann eine Unterrichtsstunde in zehn Minuten vorbereiten oder eine Stunde (oder länger) dafür aufwenden. Ich kann sehr korrekturfreundliche Prüfungen erstellen und diese minimalistisch korrigieren, aber ich kann natürlich auch umfangreiche Freitexte einplanen und sehr individuelle Korrekturen vornehmen. Ich kann ständig aufwändige Projekte im Unterricht durchführen oder nie. Wieviel Zeit ich am Ende der Woche in die Schule investiere, liegt als Lehrer*in zu einem guten Teil auch in meiner Hand.
Was passiert, wenn wir das ändern?
Die Minimalisten (die nach meiner Wahrnehmung eine sehr kleine Gruppe darstellen) würden auch nicht mehr machen, sondern die Zeiterfassung eben so ausfüllen, wie es erwartet wird. Und schon sind wir bei der Frage, ob man diese Gruppe dann in der Schule arbeiten lassen muss? Und wer soll dann überwachen, was dort geleistet wird?
Für die große Gruppe der Lehrkräfte, die es gut hinbekommen, ihre Arbeitszeit im Rahmen der zur Verfügung stehenden Freiheiten sinnvoll einzuteilen, bedeutet es vor allem mehr Bürokratie. Bürokratie, die im Übrigen auch irgendjemand überwachen und auswerten muss – sollen das die Schulleitungen machen? Nicht ernsthaft.
Bleibt die Gruppe derer, die zu viel macht. Nicht nur stundenmäßig, sondern vor allem mehr, als auf Dauer gut tut. Für diese Gruppe wäre eine Zeiterfassung als Augenöffner wohl sinnvoll – da kann man aber nur sagen: Macht das, entsprechende Apps stehen kostenlos zur Verfügung – jede*r sollte das für sich mal ein paar Wochen lang dokumentieren und die richtigen Schlüsse daraus ziehen.
Was sicher nicht passieren wird, ist, dass durch eine flächendeckende Erfassung der Arbeitszeit irgendetwas besser wird. Die Hoffnung, dass daraus eine Erkenntnis erfolgt, dass Lehrkräfte zu viel arbeiten würden und die Stundendeputate nach unten zu korrigieren sind, ist bestenfalls naiv. Im Gegenteil würde sich daraus womöglich ein Vorwurf der Ineffizienz begründen lassen und vielleicht auch die Forderung, die Arbeitszeit mehr in der Schule zu erbringen, um sie besser überwachen zu können, weil ja nicht sein kann, was nicht sein soll.
Dass solche Befürchtungen durchaus berechtigt sind, sieht man am Beispiel dieses Beitrags der Blogparade: Eine (private) Schule hat sich auf den Weg gemacht, möglichst viele Synergien für die Arbeit vor Ort zu schaffen und die arbeitsrechtlichen Vorschriften möglichst gut umzusetzen; was dabei herausgekommen ist, ist diese Idealvorstellung:
https://moewenleak.wordpress.com/2024/02/11/blogparade-2-arbeitszeiten-in-der-schule-erfassen/
- Alle Team-Lehrkräfte arbeiten in Vollzeit, also 40 Zeitstunden pro Woche.
- Jedes Team besteht aus zwei hauptverantwortlichen Lehrkräften, gerne in der Kombination Erzieher:in + Lehrkraft, andere Kräfte kommen nach Bedarf dazu.
- Klassenlehrerprinzip geht vor Fachlehrerprinzip
- Der Arbeitsplatz ist in der Schule, hier gibt es einen Schreibtisch, Regalplatz und ein Dienstgerät (Laptop) für jeden.
- Die Arbeitszeit ist für unterrichtende Lehrkräfte aufgeteilt in 20 Zeitstunden Unterricht, 10 Stunden Vorbereitungszeit, 4 Stunden Teambesprechungszeit, 1 Stunde „Elternzeit“ und 5 Stunden Kontaktzeit, die Mittagessenbetreuungen, Aufsicht und Hortzeiten umfassen.
- Es gibt 30 Tage Urlaub, die während der Ferien zu nehmen sind, sowie 5 individuelle Fortbildungstage.
- Während der unterrichtsfreien Zeiten müssen 5 Tage Hortbetreuung geleistet werden, an weiteren 5 Tagen muss man zur Ferienhortvertretung zur Verfügung stehen.
Ich erkenne auf jeden Fall die Idee dahinter an und sehe auch die angestrebten Vorzüge. Dennoch wäre ein solcher Verlust an individueller Freiheit, mir meine Arbeitszeit einzuteilen, wie ich will, für mich persönlich untragbar. Insbesondere auch der Vorzug, gemeinsam mit den Kindern Ferien zu haben und nicht irgendwie die eigenen knappen Urlaubstage um die Schließzeiten von Kita und Schulen jonglieren zu müssen, ist ein unschätzbarer Vorteil.
Aber mit den unterschiedlichen Fächern und Schularten und so vielen Individualfaktoren; das ist doch schon alles irgendwie ungerecht.
Ja, schon. Lehrkräfte mit Deutsch und Englisch in der Sek. II haben eine enorme Korrekturbelastung, Lehrkräfte in Sport einen krassen Geräuschpegel, die Naturwissenschaften bereiten Experimente vor, Lehrkräfte in der Grundschule sind durch die krasse Heterogenität viel zu großer Gruppen überlastet, der minimalistische Freizeitoptimierer erhält das gleiche Geld wie die überengagierte Vollblutpädagogin. Das Thema „Klassenfahrten und Arbeitszeit“ (insbesondere bei Teilzeit-Lehrkräften) ist auch so ein Minenfeld. Das ist alles andere als perfekt und es lohnt sich bestimmt, an der ein oder anderen Stelle genauer hinzuschauen und Veränderungen vorzunehmen. Aber die Einführung einer Arbeitszeiterfassung ist meiner Meinung keinesfalls das Mittel der Wahl.
Danke für deine Einschätzung, der ich vorbehaltlos zustimmen kann.
Die Vorteile der freien Einteilung der Zeit hast du super beschrieben – ein Ausflug ins Grüne während der Woche, Korrekturen am Sonntag – perfekt. Ich habe auch oft den Eindruck, dass manche KuK vergessen, dass sie in der Schulzeit idR extra arbeiten müssen, um die Ferien wieder reinzuholen. Als ich mal meine Arbeitszeit mit einer App erfasst habe, war ich erstaunt – es waren nicht so viele Stunden, wie ich gedacht hatte.