Verfassungsviertelstunde: Zeit für die Gemeinschaft

„Die Schule wollen wir als Ort der Demokratie- und Wertevermittlung und Berufsorientierung stärken. Wir wollen die aktive Befassung mit unseren Verfassungswerten stärken. Hierzu führen wir eine „Verfassungsviertelstunde“ als wöchentliches Format ein, in der anhand von praktischen Beispielen über die Bayerische Verfassung und das Grundgesetz sowie die dort verankerten Grundsätze diskutiert wird.“

(Koalitionsvertrag CSU-FW für die Legislaturperiode 2023 – 2028)

Es ist ein altbekannter Reflex: Fast immer, wenn eine neue gesellschaftliche Herausforderung identifiziert wird, dauert es nicht lange, bis jemand auf die Idee kommt, dass die Schulen das lösen sollen. Dann wird ein neues Schulfach gefordert, ein Tag des Handwerks, eine Projektwoche Alltagskompetenzen, eine Schulsport-Aktionswoche, eine Woche der Gesundheit und Nachhaltigkeit, eine Woche des Waldes, eine Aktionswoche gegen Alkoholmissbrauch, und so weiter. Manche dieser Forderungen werden umgesetzt, andere nicht; das hängt immer auch ein bisschen davon ab, wer das fordert und wie wirkmächtig Interessensgruppen ihre Anliegen bei der Politik platzieren können.

Fast alle der Anliegen, die hinter solchen Initiativen stehen, sind berechtigt und adressieren echte gesellschaftliche Problemlagen. Dennoch ist die Zeit, die wir in den Schulen haben, begrenzt und kann nicht beliebig mit zusätzlichen Themen und Projekten gefüllt werden kann, ohne dass andere Dinge dann kürzer gefasst werden müssten (nur welche?). Wenn Schule alle Themen aufnehmen soll, die früher im Elternhaus, im sozialen Umfeld oder in Vereinen vermittelt wurden, bräuchte es mehr Ressourcen; dann sind wir bei der gebundenen Ganztagsschule, wo mit einer guten personellen Ausstattung in multiprofessionellen Teams sehr viel mehr möglich wäre.

Wir kennen Vergleichbares aus dem bayerischen Lehrplan: Da sind neben den fachbezogenen Inhalten umfangreiche „schulart- und fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsziele“ formuliert, zum Beispiel Berufliche Orientierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Kulturelle Bildung, Politische Bildung, Soziales Lernen oder Werteerziehung. Für die Vermittlung dieser Ziele sind die Schulen, Lehrkräfte, Fächer gemeinschaftlich verantwortlich. Nur: Wenn alle gleichermaßen verantwortlich sind, fühlt sich bisweilen am Ende keiner so richtig zuständig. Sonst bräuchte es keine Aktionstage, Wochen oder Viertelstunden; und so finden wir auch die Ziele der neuen Verfassungsviertelstunde schon in diesen schulart- und fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungszielen abgebildet:

Politische Bildung basiert auf der Kenntnis und Akzeptanz von Demokratie und freiheitlich-demokratischer Grundordnung sowie dem Wissen um den föderalen, rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Die Schülerinnen und Schüler achten und schätzen den Wert der Freiheit und der Grundrechte. Auf der Grundlage einer altersgemäßen Fähigkeit und Bereitschaft zur Teilhabe am politischen Prozess tragen sie zu einer positiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Gesellschaft und zum Erhalt des Friedens bei. Sie nehmen aktuelle Herausforderungen an, etwa im Zusammenhang mit der Entwicklung eines europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls oder mit zentralen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen von der kommunalen und Landesebene bis hin zu prägenden Tendenzen der Globalisierung.

Bayerischer Lehrplan, übergreifende Ziele: Politische Bildung

Die Einführung eines eigenen Formats zur Umsetzung eines übergreifenden Zieles stärkt dessen Verbindlichkeit und sorgt – auch aufgrund der medialen Resonanz – am Ende dafür, dass die Befassung mit diesen Inhalten dann tatsächlich auch stattfindet. So wird das nun auch mit der „Verfassungsviertelstunde“ sein, schätze ich und begrüße das sehr:

Was ist davon zu halten?

Die Lehrkräfteverbände reagieren auf Forderungen, zusätzliche Inhalte oder verbindliche Formate in die Schule zu integrieren, zumeist zurückhaltend, so auch hier, hier oder hier. Diese Zurückhaltung ist aus den oben beschriebenen Gründen nachvollziehbar; ich teile sie im konkreten Fall der „Verfassungsviertelstunde“ aber nicht. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass die emotionsgetriebene gesellschaftliche Spaltung, die von verschiedener Seite mit Populismus, Falschinformationen und Hassreden stets weiter befeuert wird (und sich in Wahlergebnissen niederschlägt), unser derzeit größtes gesamtgesellschaftliches Problem ist. Und anders als bei den Alltagskompetenzen oder sportlichen Anliegen, die in vielen Fällen gut von den Familien oder Vereinen aufgefangen werden könnten, fehlen solche Strukturen bei der politischen Bildung und der Werteerziehung, wenn Familie diese Inhalte nicht vermittelt. Schule tut also meines Erachtens gut daran, dieses Anliegen engagiert aufzunehmen und in die Umsetzung zu bringen.

Was ist in einer Viertelstunde überhaupt möglich?

Wenn wir die Vereinbarung des Koalitionsvertrags mal von unten nach oben lesen (zur geplanten Umsetzung ist noch nichts bekannt), wird der Auftrag der Verfassungsviertelstunde so beschrieben:

  • Anhand von praktischen Beispielen soll über Verfassung / Grundgesetz und die dort verankerten Grundsätze diskutiert werden. Es ist klar, dass die Vorstellung eines Beispiels, die Erschließung der zugrunde liegenden Grundsätze sowie eine ausgewogene Diskussion dazu kaum in einer Viertelstunde zu machen sein wird.
  • Es soll sich mit den Verfassungswerten aktiv befasst werden. Es soll also nicht nur um Praxisbeispiele im Sinne eines juristischen Fallbeispiels gehen; vielmehr soll die Befassung mit dem Verfassungstext der Erschließung der zugrunde liegenden Werte dienen. Das ist ein ebenso wichtiger wie auch anspruchsvollerer Auftrag an die Lehrkräfte.
  • All das soll dazu dienen, Schule als Ort der Demokratie- und Wertevermittlung zu stärken. Es geht also nicht nur um eine Fallexegese und um die Erschließung der zugrundeliegenden Werte, sondern den Schüler*innen sollen diese Werte auch vermittelt werden; sie sollen sie also möglichst für sich übernehmen. Das unter Berücksichtigung des Überwältigungsverbots, mit der gebotenen pädagogischen Sensibilität und zugleich verfassungstreuer Klarheit zu tun, ist eine hochanspruchsvolle Aufgabe; zumal dort, wo Schülerinnen und Schüler verfassungsfeindliche oder rassistische Stereotype aus dem sozialen Umfeld oder aus sozialen Medien bereits übernommen haben und mit pubertärer Verve vertreten.

Das wird bei bestem Bemühen in einer Viertelstunde kaum möglich sein, fürchte ich. Das Erreichen dieser Ziele braucht Zeit und bestens dafür ausgebildete Lehrkräfte. Sozialkunde- oder Politiklehrkräfte können das, wenn man ihre Fächer ausweitet; auch Lehrkräfte in Ethik, Religion, Geschichte oder Deutsch kämen vielleicht in Frage? Die Zeit könnte man vielleicht durch eine zeitweise Zusammenlegung der Religions-/Ethikgruppen zum Klassenverband gewinnen, zumal die Wertevermittlung in diesen Fächern ohnehin ganz weit oben im Pflichtenheft steht; der Erkenntnisgewinn läge darin, dass viele Werte, auf die wir unsere Gesellschaft bauen, zugleich philosophisch-humanistisch wie auch religiös herleitbar sind und über allem in der Verfassung ihre Verankerung gefunden haben. Das würde ich gerne unterrichten; und doch ist eine solche Änderung der Stundentafeln äußerst unrealistisch.

Die Verfassungsviertelstunde als Ritual?

Wenn die gewünschte wertevermittelnde Auseinandersetzung in der geplanten Zeit kaum machbar ist, liegt die Frage nahe, was denn zu schaffen sein könnte?

Dazu ist ein Blick auf den Ursprung der Idee interessant: Wie oben beschrieben, gehen solche Aktionstage, Wochen und Viertelstunden zumeist auf Initiativen von Interessensgruppen zurück; in diesem Fall war es der Bayerische Landesverein für Heimatpflege e.V., der zum Schulbeginn am 11.09.2023 in einer Pressemitteilung einen „Morgenimpuls für Gemeinsinn“ vorgeschlagen hat. Darin heißt es:

Wo bis weit in die 1980er Jahre der Unterricht mit einem religiösen Impuls, oft mit einem Gebet begann (an konfessionellen Schulen ist es noch heute so), wäre es doch sinnvoll, wenn die Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit die Grundlagentexte unseres Zusammenlebens kennenlernen. Ich stelle mir zum Beispiel vor, dass eine Lehrerin oder ein Schüler eine ausgewählte Stelle vorträgt und dann ein paar Minuten darüber diskutiert oder wie in einer Art Meditation darüber nachgedacht wird.

Dr. Rudolf Neumaier, Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V

Diese Idee mag man spontan wahlweise belächeln oder – mit Bildern eines „Fahnenappells“ im Kopf – als übergriffig ablehnen. Ich sehe das nicht so, als Religionslehrer bin ich mir der gemeinschaftsstiftenden Wirkung von Ritualen sehr bewusst. Heutzutage werden Rituale oft abgelehnt; das beginnt schon damit, dass manche es seltsam finden, dass in vielen bayerischen Schulen die Schülerinnen und Schüler noch aufstehen, um die Lehrkraft am Stundenbeginn zu begrüßen. Das ist schade: Rituale geben Sicherheit und Stabilität, sie schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, bringen Ordnung in den Alltag, stiften Identität, Begegnungen und Beziehungen; sie finden in einem würdevollen Rahmen statt und adressieren dabei nicht nur Ratio, sondern auch Emotion.

Wenn nun das Ziel der Verfassungsviertelstunde die Wertevermittlung ist, um der Spaltung unserer Gesellschaft durch eine Besinnung auf die Werte der Verfassung entgegenzutreten und dafür aber nur eine Viertelstunde Zeit ist, könnte man den Ausgangsgedanken nochmal in den Blick nehmen: Es ist ein besonderes Geschenk, in diesem Land leben zu dürfen. In einem Land, das sich redlich bemüht, Gesetze so zu machen, dass sie den Werten der Verfassung entsprechen, dass sie den Menschen größtmögliche Freiheit einräumen und zugleich deren Würde unbedingt verteidigen. Es könnte sich lohnen, Kindern und Jugendlichen dieses besondere Geschenk, das es bedeutet hier aufwachsen zu dürfen, auch in einer anderen Form als der klassisch-unterrichtlichen Debatte, einem Arbeitsblatt oder Lernvideo zu vermitteln und es wäre spannend, diese Form zu finden, die zugleich den Anschein jeder parteipolitischen Einflussnahme vermeiden müsste, in größtmöglicher Offenheit inklusiv wirken sollte und dabei aber auch die Werte der Verfassung klar und positiv an die Schüler*innen herantragen sollte, um ein Gemeinschaftsgefühl, eine Verbundenheit unter diesen Werten entstehen und wachsen zu lassen.

Und so lange wir auf die Konkretion der Idee warten, könnte man sich bewusst machen, dass all das, was die Verfassungsviertelstunde möchte, in den fächerübergreifenden Bildungszielen längst verbindlich beschrieben ist und genau hinschauen, an welchen Stellen an der eigenen Schule diese Ziele eigentlich bislang verfolgt werden.


(Bild: mit KI generiert – Bing-Chat mit Dall-E 3)

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