„Die Gründe für die Notengebung sind fadenscheinig und überholt, trotzdem wird daran festgehalten. Längst gibt es sinnvolle Alternativen. Dieses Buch zeigt Wege für einen Unterricht ohne Noten auf.“
(Klappentext)
Über sechs Meter hoch und gut 300 Kilogramm schwer. Das sind die Maße des Papierstapels, der in einem Schuljahr an einer durchschnittlichen weiterführenden Schule in Bayern nur durch schriftliche Prüfungen anwächst. Etwas mehr als 24 Stunden lang sitzt ein Siebtklässler daran, diese Prüfungen alle zu schreiben und die Menge Schweiß, die er dabei und die Lehrkräfte für die Erstellung und Korrektur all dieser insgesamt rund 25.000 Prüfungsbögen vergießen, ist da noch gar nicht bemessen.
Das ist ganz offensichtlich sehr viel Aufwand, der an unseren Schulen für die Vorbereitung und Durchführung dieser vielen Prüfungen betrieben wird, damit am Ende im Zeugnis eine Ziffer zwischen 1 und 6 festgehalten werden kann, als sichtbares Ergebnis eines Lernjahres in Mathematik, Biologie oder Chemie. Am Zeugnistag lautet die Frage dann: „Welche Note hast du?“ und nicht: „Was hast du gelernt“?
Wenn Menschen so viel Zeit und Energie in etwas stecken, dann sollte man sich absolut sicher sein, dass diese Zeit und Energie sinnvoll investiert sind. Beim Thema „Schulnoten“ gehen die Meinungen da weit auseinander: Weite Teile der Gesellschaft, das zeigen Umfragen, sind davon überzeugt, dass Schulnoten ganz enorm wichtig sind für das schulische Lernen. Und ebenso eindeutig lehnen weite Teile der evidenzbasierten Bildungsforschung diese Zuschreibung ab. Ist das vorstellbar: Eine Schule ohne Noten? Würden die Jugendlichen da überhaupt etwas lernen? Björn Nölte und Philippe Wampfler sind davon überzeugt und bieten auf 120 Seiten einen schnellen, intensiven Einstieg in diese Idee.
„Wirksame Lernprozesse haben viel mit Entwicklungen, Förderung, Fehlerkultur und Kompetenzerleben zu tun – und praktisch nichts mit Bewertungen […]. Lernen ist nicht auf Bewertungen angewiesen […]. Unterricht wird ohne Prüfungen und Noten besser.“ Damit ist der Ton des Büchleins gesetzt. Es ist ein starkes Plädoyer, das ausspricht, was auch viele Lehrkräfte im Alltag schon irgendwie empfinden, aber so klar nicht benennen wollen oder können. Noten führten zu Frustration und brächten Lehrkräfte in einen Rollenkonflikt, da sie zugleich die Person sein sollen, die beim Lernen wohlwollend unterstützt, nur um kurz darauf den Rotstift zu zücken und Leistungen auch dann schlecht zu bewerten, wenn die Gründe dafür offensichtlich sind.
Nach dieser flammenden Einleitung wird der Ton etwas gelassener, die Autoren zeigen an Beispielen auf, wie Unterricht ohne Noten geht, wie zeitgemäße Prüfungsformate aussehen könnten und sprechen sich für Rückmeldungen statt Noten aus. Sie attestieren der heutigen Schule, in der „Buchdruckkultur“ verhaftet zu sein und fordern dazu auf, neu zu denken, was Schule in einer Kultur der Digitalität sein soll.
Schule ohne Noten – ist das denkbar? Sind Noten nicht als fairste Form der Bewertung unabdingbare Basis für Auswahlverfahren und ist es nicht doch auch sinnvoll, dass Kinder in der Schule lernen, auch mit Druck umzugehen, um vorbereitet zu sein auf die Bewertungen in Gesellschaft und Berufsleben? Auf diese und acht weitere Einwände – „Mythen zur Bedeutung von Noten“ – gibt es Antworten, die man nicht immer teilen mag, die aber in jedem Fall zum Nachdenken anregen.
Sollte man es lesen?
Mir hat das Büchlein Spaß gemacht. Sicherlich auch, weil es mich biografisch abgeholt hat: Ich war – das gestehe ich – kein besonders fleißiger Schüler. Aber ich hatte ein gutes Gespür dafür, wann (unangekündigte) Tests bevorstehen und wann ich vom Lehrer abgefragt werde. Diese Fähigkeit, kombiniert mit einem guten Kurzzeitgedächtnis, hat gereicht, um verlässlich ordentliche Noten zu erzielen. Gelernt habe ich dabei bisweilen jedoch nicht viel; und das ist im Rückblick schade, weil ich viele gute und engagierte Lehrkräfte hatte, jedoch die Zuspitzung des Lernprozesses auf die Prüfungen und Noten in meinem jugendlichen Kopf den Wert des tatsächlichen Lernangebots bisweilen verdeckt hat. Und inzwischen blicke ich auch schon auf 18 Schuljahre als Vater schulpflichtiger Kinder zurück; da ist mir besonders die vierte Klasse der Grundschule in Erinnerung geblieben als ein Schuljahr, in dem die Noten vieles überschattet haben, was Schule für Zehnjährige eigentlich bunt, fröhlich und interessant macht.
Ich glaube, dass es nicht wenigen Jugendlichen auch heute noch so geht wie mir damals. Man könnte dazu mal ein spannendes Experiment machen: Was käme heraus, wenn einer Klasse eine Prüfung, auf die sie sich vorbereitet hatte und die ein ordentliches Notenergebnis lieferte, ohne Ankündigung zwei Monate später nochmal vorgelegt würde? Wieviel ist wirklich hängengeblieben? Und war die Zeit, die Prüfung vorzubereiten (für Lehrkräfte und Schüler*innen), sie zu schreiben, zu korrigieren, zu bewerten, auszugeben, einzusammeln, abzulegen und zu verwalten, dann unterm Strich gut investiert? Und welche Bedeutung, welchen Wert hatte diese Prüfung dann für das Lernen der Kinder oder Jugendlichen?
Von mir also eine klare Leseempfehlung. Und das nicht, weil ich davon überzeugt wäre, dass wir Noten am besten morgen abschaffen sollten; das würde ein träges System wie Schule und alle daran Beteiligten völlig überfordern. Schule verändert sich langsam; und das ist auch gut so. Lehrkräfte, Eltern und Bildungsverantwortliche könnten das Büchlein aber lesen, gerade um sich irritieren zu lassen in ihren tradierten Gewissheiten, damit aus der Verunsicherung Bewegung entstehen kann und Mut, Dinge auszuprobieren, neue Formen von Feedback und Leistungsmessung zu erproben und lernen statt prüfen noch mehr in den Mittelpunkt zu rücken.
Björn Nölte, Philippe Wampfler: Eine Schule ohne Noten. Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung, hep Verlag, Bern 2021, 22€ (print), 16€ (ebook).
ISBN Print: 978-3-0355-1966-2
ISBN E-Book: 978-3-0355-1967-9