Unter dem Titel „Aktion Kindermund“ wird seit einigen Monaten zum Protest gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung aufgerufen. Das Bild von abgelegten Kinderschuhen, Stofftieren und Kerzen vor Rathäusern, Landratsämtern und Schulen ist inzwischen leidlich bekannt.
Die nun mehr als ein Jahr anhaltende Pandemie ist für alle Teile der Gesellschaft, besonders aber auch für Kinder, Jugendliche und Familien hoch belastend. Und diese Belastungen, insbesondere auch im psychosozialen Bereich, müssen auch eine Stimme haben. Aber die hier gewählte Form des Protests ist geschmacklos und geschichtsvergessen und die damit verbundenen inhaltlichen Forderungen halte ich für abwegig:
Symbolik
Die gewählten Symbole sind geschmacklos: Kerzen und Plüschtiere werden an Orten aufgestellt, an denen Kinder oder Jugendliche tödlich verunfallt sind. In Deutschland starben in der Tat bereits Kinder und Jugendliche an Corona; viele Kinder sind durch Corona auch zu Halbwaisen geworden, haben Oma oder Opa verloren oder sie selbst oder ihre Eltern oder Großeltern sind dauerhaft erkrankt. Diese Symbolik nun als Protestgeste gegen die Politik zu verwenden, die Kinder und Familien schützen soll, ist geschmacklos und ein Schlag ins Gesicht aller Eltern, die tatsächlich an Unfallorten ihrer Kinder Kerzen aufstellen mussten.
Noch schwerer wiegt die Geschichtsvergessenheit: Bilder von massenhaft hinterlassenen Kinderschuhen sind ein bekanntes Symbol. Sie rufen eine grausame Erinnerung hervor, an die hunderttausendfachen Kindermorde im Nationalsozialismus. Bei der Befreiung der Vernichtungslager wurden Berge von Kinderschuhen gefunden. Die SS hatte ein Geschäft daraus gemacht, gut erhaltene Kinderschuhe und Kinderbekleidung zu verwerten, für deutsche Kinder.
mdr und rbb haben diesen Zusammenhang klar herausgearbeitet und auch auf die Verbindungen im Hintergrund hingewiesen:
Wer sich dieser Symbole bedient, um gegen eine Politik zu demonstrieren, die die Gesundheit der Familien schützen möchte, liegt nicht nur inhaltlich meilenweit daneben, sondern er muss sich auch die Kritik gefallen lassen, Symbole des Holocaust zu verharmlosen und zu instrumentalisieren. Zahlreiche Lokalpolitiker*innen in Deutschland haben sich deshalb scharf gegen diese Form des Protests positioniert; nichts anderes darf man erwarten.
Abwegige Forderungen
Es besteht in der Wissenschaft kaum ein Dissens über die Fakten und einen möglichen Weg aus der Krise:
- Die Mutationen, insbesondere B.1.1.7, sind auch für Kinder und Jugendliche gefährlich und verbreiten sich in dieser Altersgruppe stark.
- Das Alter der schwer Erkrankten sinkt ständig; die Intensivstationen in Ländern mit hohen Inzidenzen (z.B. Frankreich) füllen sich mit der Elterngeneration.
- Massenhafte Tests sind ein probates Mittel, um bei sehr niedrigen Inzidenzen die Zahlen niedrig zu halten. Bei hohem Infektionsgeschehens dämmen sie die Verbreitung nicht ein (das haben z.B. die Tests in Schulen in Österreich gezeigt; auch das Tübinger Modell droht daran zu scheitern).
- Der von fast allen Expert*innen vorgeschlagene Weg aus der Krise ist ein zeitlich begrenzter, harter Lockdown und anschließend eine Politik, die die Zahlen dauerhaft niedrig hält.
- Wer angesichts der klaren Fakten fordert, Schulen ohne Schutzmaßnahmen (z.B. Masken, Abstand) zu öffnen, nimmt bereitwillig in Kauf, dass das Infektionsgeschehen weiter zunimmt; mit allen damit verbundenen Konsequenzen.
Wie gesagt: Die Belastungen der Familien, der Kinder und Jugendlichen, darf man nicht klein reden, sondern muss sie ernst nehmen und mit allem Einsatz nach Lösungen und Verbesserungen suchen. Aber sie rechtfertigen nicht Forderungen, die die Gesundheit vieler gefährden (und letztlich dazu führen, dass alles noch viel länger dauert) und sie rechtfertigen ebensowenig Formen des Protests, die mit Symbolen des Holocaust spielen; sei es wissentlich oder fahrlässig.
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