Disclaimer: Ich verstehe, dass unter dem Bemühen um Chancengleichheit und um die Vergleichbarkeit von Abschlüssen entschieden wurde, die Abschlussklassen wieder zurück an die Schule zu holen. Der nachfolgende Text ist als Debattenbeitrag auf den zweiten Schritt der Öffnung der Schulen, also die geplante Beschulung der „Anschlussjahrgänge“ ab dem 11.05., bezogen.
Nordrhein-Westfalen hat heute als erstes Bundesland die Präsenz-Beschulung der Abschlussklassen unter lautstarkem Protest verschiedener Personengruppen wieder aufgenommen, die meisten anderen Bundesländer starten damit nächste Woche. In den letzten fünf Tagen haben die Ministerien viele Seiten mit Hinweisen zu Notenbildung und mit Hygienevorschriften an die Schulen verschickt; alleine in Bayern rund ein Dutzend sog. KMS mit insgesamt über 80 Seiten. Das bringt zum Ausdruck, dass allen Beteiligten bewusst ist, dass es ein überaus komplexes Bestreben ist, ein dynamisches, interaktives und kommunikatives Geschehen wie Schulunterricht den derzeit geltenden Hygieneregeln zu unterwerfen. Ganz normaler Unterricht wirkt auf einmal wie ein wildes Tier, das nun mühsam an die Kette der Hygieneverordnungen gelegt werden muss:
Manche greifen zu drastischen Vergleichen:
Die Regelkataloge für die Schülerinnen und Schüler umfassen viele Seiten: Abstandsgebot, Maskenpflicht (in BY noch nicht), Einbahnregelungen, getrennte Ein- und Ausgänge, Händewaschen im Akkord. Fast alles, was Schule zum Lebensraum macht, fällt dafür weg: keine Wahlfächer, keine Gruppenarbeiten, keine Projekte, keine Konzerte und Theateraufführungen, keine Exkursionen, kein „Ich hab mein Buch vergessen, kann ich bei dir reinschauen“. Kein Gelächter in kleinen Grüppchen beim Stundenwechsel, kein verstohlenes Händchenhalten mit der ersten Flamme. Unter Corona-Bedingungen reduziert sich Schule auf Inhaltsvermittlung im Frontalunterricht, unterbrochen durch gelegentliche Rückfragen. Und Prüfungen natürlich. Stillsitzen, nicht zum Nachbarn beugen und ab und zu was sagen – wie vor 100 Jahren eben (nur dass die damals übliche Schülerzahl pro Klasse die Einhaltung des Abstandsgebots kaum zugelassen hätte). Dazu die latente Angst, sich mit einem noch weitgehend unbekannten Virus anzustecken und dieses mit nach Hause zu tragen.
Wie gesagt: Ich verstehe die Entscheidung, die Abschlussklassen vor den Prüfungen noch einmal ins Haus zu holen, auch wenn die Bedingungen schwierig sind und ich mir persönlich auch andere Lösungen hätte vorstellen können. Die echte menschliche Begegnung im Haus mag sich doch noch einmal anders anfühlen als über den Videochat. Und nichts wäre mir lieber, als alle Schülerinnen und Schüler aller Klassen sofort wieder ins Haus zu holen und zum Normalbetrieb überzugehen. Aber diese Option besteht leider nicht. Und deshalb liegt ein Gedanke nahe:
Wenn wir zusätzlich zu den Abschlussklassen auch noch die Anschlussjahrgänge zu den gleichen Bedingungen in die Schulhäuser holen, werden viele Schulen die Hygieneregeln nur mit Schwierigkeiten einhalten können. Ein simples Beispiel: In einem modernen Schulhaus mit Whiteboards gibt es im Klassenzimmer keine Waschbecken mehr. In einer mittelgroßen Schule (drei Stockwerke mit je einer Sanitäreinheit) mit vier Parallelklassen stünden dann also für rund 200 Schülerinnen und Schüler sechs Waschbecken zur Verfügung. „Regelmäßiges und gründliches Händewaschen“ wird damit zur Utopie.
Dazu ist die Beschulung in halbierten Klassen enorm personalaufwändig. Wenn an einer sechsstufigen Mittel- oder Realschule die beiden Abschlussjahrgänge im Haus sind und zu Corona-Bedingungen Unterricht haben, bedeutet das, dass 2/3 der Lehrerkapazität damit verbraucht sind. Für die Fernbeschulung der Klassen 5-8 steht damit nur noch 1/3 der Lehrerstunden – rein rechnerisch – zur Verfügung. Dazu kommen Fahrzeiten und die Tatsache, dass ein Teil der Lehrkräfte für die noch immer ungewohnte Vorbereitung und Begleitung des digitalen Lernens einen erhöhten Arbeitsaufwand auf sich nimmt. Um die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte in einem vernünftigen Maß zu halten, müsste also die Intensität der Fernbeschulung (jetzt wo sich das gerade etwas eingespielt hat) zurückgefahren werden.
Nun ist es um den Ertrag und die Akzeptanz der digitalen Fernbeschulung je nach Vorerfahrung, Einsatzbereitschaft und digitaler Kompetenz der Kollegien recht unterschiedlich bestellt. Viele Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte sind vielleicht froh, wenn sie – auch unter den strengen Regeln – wieder zurück in die Schule können. Und nicht alle Lehrkräfte können das von sich behaupten:
Angesichts der umfangreichen Regelwerke mag es befremdlich erscheinen, an dieser Stelle den Gedanken der eigenverantwortlichen Schule ins Spiel zu bringen. Genau das wäre aber meines Erachtens ein guter Weg:
Warum soll nicht die Schule selbst, also ein Plenum aus Schüler*innen-Vertretung, Elternbeirat und Kollegium (in Bayern das „Schulforum“) entscheiden, ob ab dem 11.05. der Präsenzunterricht zu Corona-Bedingungen starten soll oder ob der digital gestützte Fernunterricht noch eine Weile fortgeführt wird? Natürlich braucht es da viele Voraussetzungen, damit niemand auf der Strecke bleibt: Leihgeräte der Schule, psychosoziale Begleitung für familiäre Krisensituationen, leihweise UMTS-Access Points. Das ist aber alles regelbar.
Was ist denn eigentlich die Aufgabe von Schule in dieser eigenartigen Zeit? Spontan fällt mir ein:
- Pflege der Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern
- Sinnvolle Lernangebote in verschiedenen Fachbereichen
- Vermittlung der Grundlagen in stark aufbauenden Fächern für das nächste Schuljahr
All das lässt sich digital gut abbilden. Weitgehend entfallen wird zudem nach der Ankündigung zahlreicher Kultusministerien die Selektionsfunktion von Schule im Juli: Flächendeckend wurden großzügige Übertritts- und Vorrückungsregularien angekündigt, sodass in Folge der Prüferei für den Rest dieses Schuljahres nachrangige Bedeutung zukommen dürfte.
Was spricht also dagegen, den Schulen, die es sich zutrauen, die Freiheit zur Entscheidung zu geben, so lange ein Präsenzbesuch nur unter diesen strengen Regeln möglich ist?
Dass wir neben den o.g. Aspekten auch noch jede Menge Medienkompetenz bei den Schüler*innen und Lehrkräften aufbauen, die der Qualität dann auch des Präsenzunterrichts unter den Bedingungen der Digitalität einen gewaltigen Schub verpassen könnte, käme als Bonus noch obendrauf.