Beziehungspflege first – Arbeitsblätter second

Der untenstehende Text ist die Langfassung eines Interviews, das am 29.03. in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist. Wie so ein Text entsteht, darüber habe ich hier gebloggt. Herzlichen Dank an Christian Füller für die Erlaubnis, die ursprüngliche Fassung hier zu veröffentlichen:

Sollte Schule auf längere Zeit ausfallen, ist der Kontakt zwischen Schülern und Lehrern in Gefahr. Technologie kann Geborgenheit nicht ersetzen, sagt Tobias Schreiner, Leiter einer digital erprobten Realschule in Bayern

Frage: Herr Schreiner, auch Sie machen nun seit zwei Wochen mit ihren Schülern Homeschooling…

Tobias Schreiner: … der Begriff passt nicht genau. Ich sage dazu lieber ‚Schule dahoam‘.

Wo liegt der Unterschied?

Homeschooling bedeutet, Eltern organisieren das Lernen ihrer Kinder selbst. Schule dahoam ist etwas anderes: die Kinder sind zuhause, ja – aber wir Lehrer nehmen unsere Aufgabe weiter wahr. Wir wollen den sozialen Kontakt zu den Schülern halten und weiter mit ihnen lernen.

Wie läuft es mit der ‚Schule dahoam‘ bei Ihnen?

Wir haben über gerade eine Umfrage unter Eltern und Lehrern gemacht. Die Lehrkräfte sind engagiert und neugierig; vielen fällt es jetzt im Homeoffice aber noch schwerer, Arbeit und Freizeit zu trennen. Bei den Eltern hat über die Hälfte innerhalb nur eines Tages geantwortet.

Was sagen die?

Acht von zehn zeigen uns an, dass sie kaum Mehraufwand mit dem Lernen ihrer Kinder haben. Die sind ziemlich zufrieden.

Und Sie als Schulleiter?

Ich empfinde das alles als eine ordentliche Herausforderung. Wir sind alle ins kalte Wasser geworfen worden. Aber wir meistern das. Am Schultag 10 nach der Schließung ist die Beziehung Lehrer-Schüler noch lebendig. Da weiß jeder noch, wer der andere ist – und dass er auf ihn bauen kann. Wir nutzen auch digitale Kanäle, etwa Chat, Mail und unsere Schulcloud.

Eine Schulcloud ist das viel beschworene virtuelle Klassenzimmer?

Ja, ein Lern- und Kommunikationsraum, der über eine Datenwolke abgewickelt wird: Schüler und Lehrer kommunizieren miteinander, können gemeinsam an Dokumenten arbeiten und auch Videokonferenzen abhalten. Aber es geht im Verhältnis von Lehrern und Schülern in Zeiten von Corona nicht um Technologie!

Sondern?

Viel wichtiger ist, dass die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern und auch zu den Eltern nicht abreißen. Das wird in meinen Augen die Gretchenfrage der schulischen Coronaquarantäne.

Befürchten Sie, dass Familien die Schulschließungen nicht über Ostern hinweg aushalten?

Ich hoffe inständig, dass es nicht länger dauert. Sollte es sich aber weiter hinziehen, halte ich es für umso wichtiger, dass Schulen sich schon jetzt Gedanken machen, wie der Beziehungsaspekt von Schule irgendwie in die neue Situation übertragen werden kann. Sonst ist es vielleicht zu spät – gerade bei den Kindern, wo die eigene Familie die soziale und emotionale Stabilität und nicht gewährleisten kann.

Muss Schule nicht vor allem Wissen vermitteln?

Das muss sie, unbedingt. Aber, um es plakativ zu sagen: Es geht im Moment nicht darum, wie wir Aufgabenblätter in die Elternhäuser transportieren, ganz egal ob als Kopie oder als PDF. ‚Wiederhole im Buch die Seiten 7 bis 75. Mach‘ alle Übungen, die wir noch nicht geschafft haben. Ich freue mich, Dich nach den Ferien wieder zu sehen’…

… das ist doch keine echte Corona-Hausaufgabe, Herr Schreiner, sondern die Karikatur davon.

Das ist eine authentische Aufgabenstellung. Und so etwas darf meines Erachtens nicht sein. Eltern dürfen nicht zu Hilfslehrern gemacht werden. Unsere größte Sorge trotz Corona muss lauten: Wie halten wir Lehrkräfte und Schüler zusamen?

Was bedeutet das, bitte, konkret?

Lehrer müssen sich bemühen, intensiven Kontakt zu ihren Schülern zu halten. Dann sinkt die Belastung der Eltern. Dann wird die stabilisierende und unterstützende Funktion von Schule wahrgenommen. Da muss der Fokus hin, nicht auf Hausaufgaben, an denen die Schüler wochenlang sitzen.

Sie sind eine Schule mit Cloud, Chat und aktiver Homepage. Wie nutzen sie diese vielen Kanäle?

So differenziert wie möglich. Wir haben zum Beispiel ganz verschiedene Chaträume. In der digitalen Aula etwa versammelt sich die ganze Schule.

Jeder spricht dort mit jedem?

Jeder sieht jedenfalls, wenn jemand etwas schreibt. Über diesen Kanal habe ich zum Beispiel wissen wollen, welche Erfahrungen die Schulgemeinde mit Corona und Schule dahoam gemacht hat.

Hat sich darüber ein öffentlicher Diskurs in der digitalen Aula entwickelt?

Zum einen wurde offen geredet. Zum anderen habe ich insgesamt 30 direkte Nachrichten von Schülern bekommen, die nur für mich bestimmt waren. Manche äußern sich nicht in der Vollversammlung – das ist wie im analogen auch.

Hat sich mit Corona etwas an der Nutzung der Kanäle geändert?

Ja, die Eltern haben teilweise auch versucht, über die Klassenchaträume Fragen an das pädagogische Personal zu richten. Ich kann das verstehen – gerade jetzt, wo so viele Baustellen offen sind. Dennoch habe ich die Eltern ermuntert, den üblichen Weg zu gehen und sich per Email an die Lehrpersonen zu richten.

Warum haben Sie das getan?

Der Chat ist Teil unseres virtuellen Klassenraums. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, als wären die Eltern in jeder Stunde hinten mit dabei.

Haben die Eltern sich über den Rauswurf beschwert?

Sie haben ein bisschen gewitzelt. Die Eltern wissen ja, dass sie per Email zuverlässig an die Lehrer Anfragen stellen können. Wir haben eine besondere Erziehungspartnerschaft mit den Eltern, zu der unter anderem ein gemeinsamer Chor und Stammtische gehören, die wir als Schule initiieren. Die Eltern sollen uns Lehrer als verantwortungsbewusste Personen und Menschen kennen lernen – und nicht nur dann, wenn´s mal wegen einer Note oder dem Betragen ihres Kindes hakt. Teil dieser Partnerschaft ist, dass die Schulmailadresse jedes Lehrers bekannt ist – und wir uns mit den Kollegen verständigt haben, dass sie auf Mails von Eltern spätestens nach zwei Schultagen reagieren.

Wenn man in Ihrem Bild bleibt, sitzen seit Corona alle Eltern mit im Klassenzimmer. Hilft das?

Ich bin kein Freund einer Abschottungspolitik. Im Gegenteil sehe ich es so, dass wir als Schule möglichst offen und transparent sein sollten. Wenn Eltern uns Feedback geben, dann ist das ganz prinzipiell gut. Mir sind Eltern, die sich für die Belange ihres Kindes engagieren, lieber als solche die stumm bleiben und sich nicht einbringen. Ja, und wenn sich mal ein Vater oder eine Mutter aufregt, dann ist das halt so. Damit sollten wir professionell umgehen. Das bedeutet ja erstmal, dass sie sich interessieren.

Haben digital so gut ausgestattete Schulen wie die Ihre gerade Vorteile?

Klar tun sich die Schulen, die das Digitalisierungs-Thema schon vorgedacht und auch geübt haben, jetzt ein bisschen leichter. Aber diese ganzen digitalen Tools und Plattformen waren – in meinen Augen – immer nur dazu gedacht, um den Präsenzunterricht, also das Miteinander von Lehrern und Schülern, zu ergänzen. Die Konzepte haben nie vorgesehen, alle Funktionen von Schule wie Wissensvermittlung, Erziehung, Kommunikation oder aufeinander Acht zu geben, vollständig digital abzubilden. Und das können die Tools letztendlich auch nicht.

Wie halten jene Schulen den Kontakt, die keine ausgebauten virtuellen Klassenräume haben?

Ein Teil der Lehrkräfte versucht, irgendwie ihr Arbeitsmaterial an die Kinder weiter zu reichen, gerade bei den Grundschulen. Die arbeiten teilweise mit Kopien und toten Briefkästen. Eltern fahren dann dahin und holen das ab.

Wie wird der Kontakt für diesen Lehrmitteltransport hergestellt?

Auf allen denkbaren Wegen. Die Lehrerin schickt per email ein Arbeitsblatt an die Elternvertreterin. Die fotografiert das dann und stellt es in den Elternchat der WhatsApp-Gruppe – welche die Lehrer zurecht nicht nutzen sollten. Viele stellen Materialpakete digital zum Download ein, beispielsweise auf der Schulhomepage.

Was sie beschreiben ist ja keine pädagogische Beziehung, sondern nur ein Hin- und Herschicken von Stoffpaketen.

Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass viele Lehrer ganz verschiedene Drähte nutzen, um mit den Schülern auch im Gespräch zu bleiben. Ich kenne Grundschullehrerinnen, die alle ihre Familien abtelefonieren, um den persönlichen Kontakt zu ihren Schüler aufrecht zu erhalten. Uns ist das Telefon auch wichtig.

Sie telefonieren noch trotz ihrer digitalen Ausstattung?

Ja, sobald sich ein Schüler im virtuellen Klassenzimmer zwei oder drei Tage nicht zurückmeldet, rufen Kollegen an. Dazu haben wir einen eigenen Plan aufgestellt. Die Lehrer mit Nebenfächern, die im Moment weniger belastet sind, übernehmen das und halten den Draht aufrecht. Wir haben auch ganz schnell unsere Schulsozialarbeit mit in den digitalen Raum aufgenommen. Wir bewerben das bei Eltern und Schülern ganz offensiv. Wir haben dafür sogar zusätzliche Telefonsprechzeiten eingerichtet.

Wie ist die Lage des Fernunterrichts Ihres Erachtens an den Schulen allgemein?

Wir können davon ausgehen, dass der größte Teil der Lehrkräfte darum kämpft, sich überhaupt Wege zu den Schülern zu bahnen. Viele Schulen haben keine ausgebauten digitalen Kommunikationsräume, und die Email ist oft nicht das Medium der Schüler. Ein kleinerer Teil nutzt bereits die Technologien wie etwa den Chat.

Wie reagieren die Schüler darauf?

Mich erreicht das Feedback, dass Schüler sehr stolz sind, wenn der Lehrer im Chat direkt auf sie eingeht. Die empfinden das als große Wertschätzung. Ich habe eh das Gefühl, dass die Motivation der Schüler im Moment eher größer ist. Die nehmen das Coronavirus und die Lage insgesamt sehr ernst. Wenn ich eine Aufgabe im digitalen Klassenzimmer stelle, kommt gerade oft mehr zurück, als wenn ich das in einem Klassenzimmer mit Tafel und Stuhlreihen tue. Trotzdem sehe ich Schule dahoam oder Homeschooling durchaus kritisch.

Gibt es Alternativen? Im Moment geht es nunmal nicht anders.

Ja. Nur können wir die Probleme besser erkennen, wenn wir den Blick über den Tellerand hinaus weiten. Wir sehen dann, dass es schon immer Familien gab, die ihre Kinder selbst unterrichten, sei es, weil sie weit abgelegen in kanadischen Wäldern leben oder auch aus religiösen Gründen. Bei denen klappt das, wenn man sich die Studien dazu anschaut, auch ganz gut. Aber es gibt eben einen entscheidenden Unterschied zu unserer Situation jetzt.

Nämlich?

Homeschooling-Familien haben sich diese Situation selbst ausgesucht. Das ist jetzt ganz anders. Millionen von Schülern wurden per Dekret nach Hause geschickt, für Wochen, vielleicht länger. Die deutsche Schule büßt meines Erachtens nun eine ihrer Stärken ein: den Bereich der sozialen und emotionalen Betreuung.

Ist das so?

Die meisten Schüler gehen gern in die Schule, weil sie dort Wärme und Stabilität erfahren. Ich meine damit nicht nur Kinder und Jugendliche aus unsicheren Verhältnissen. Der Ruhepol Schule fällt komplett weg, wenn wir Fernlernen betreiben – und es obendrein nur als technologische Angelegenheit betrachten. Manches, was ich da erlebe, mutet wie programmierter Unterricht aus den 1970ern an – nur eben als digitale Variante. Das ist speziell für jene Familienkonstellationen schwierig, bei denen es bisher schon öfter nicht so gut lief.

Welche meinen Sie?

Ich habe den Eindruck, dass Eltern mit jüngeren Kindern mehr Stress haben. Auch Einzelkinder scheinen mir derzeit belasteter. Das Alleinsein zuhause, wenn Eltern nicht da sind, kann die Verunsicherung erhöhen. Geschwisterkinder haben, wenn sie altersmäßig nicht zu weit auseinander liegen, einen großen Vorteil: sie können miteinander spielen.

Mehr Kinder, kleinere Probleme?

Nein, was mir Sorge macht, sind vier- und fünfköpfige Familien, in denen zuhause kein Platz zum Lernen ist. Wo sollen Kinder in Ruhe für ‚Schule dahoam‘ arbeiten, wenn die ganze Zeit Halligalli ist oder der Fernseher ständig läuft? Wenn hier die stabilisierende psychosoziale Komponente der Schule ausfällt, kann das sehr problematisch werden. Unsere Aufgabe sehe ich darin, Kinder und Jugendliche auch zuhause so sinnvoll wie möglich zu begleiten, damit es für Eltern entlastend wirkt. Wir sollten den Familien helfen, den Tagen der Kinder Rhythmus und Struktur aufzuprägen.

Haben Sie Ideen, wie man da helfen kann?

Wir müssen dafür sorgen, dass Eltern und Schüler gerade jetzt einfach und schnell an Familiencoaching oder Jugendämter heran kommen. Und warum sollen nicht Studierende Online-Nachhilfe für Schüler anbieten, ehe die sich mit ihren Eltern verhaken? Sowas lässt sich doch ganz einfach über eine Webseite organisieren.

Wie sehen Sie die Rolle von Lehrern, die große Aufgabenpakete verschicken?

Wir sollten da sehr gut acht geben. Schule bedeutet ja ohnehin oft Druck für Familien. Ich finde, wenn die Gesellschaft insgesamt gerade sehr verunsichert ist, dann sollte es nicht so sein, dass diejenigen, die wenig Grund zu persönlicher Verunsicherung haben, nämlich Lebenszeitbeamte, mit dazu beitragen, dass die Belastung für die Familien steigt. Bei Eltern, die in Kurzarbeit sind oder ihren Job verlieren, kann die Frage, ‚wo ist denn Aufgabe 3b abgeblieben?‘ eine Krise auslösen. Das gilt übrigens in Coronazeiten genau wie in der ganz normalen Schule.

Die Fragen stellte Christian Füller.

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